Uwe Durst
Theorie der phantastischen Literatur

Aktualisierte, korrigierte und erweiterte Neuausgabe,
2. Aufl., Berlin (Lit-Verlag) 2007, 436 S.
29,90 €. ISBN 978-3825896256



Till Kinzel in IFB Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft

Wer sich heute mit literaturtheoretischen Überlegungen beschäftigt, tut dies oft im Fahrwasser poststrukturalistischer Ansätze, die das heterogene Spiel der Signifkanten inszenieren. Es gibt jedoch auch eine fortdauernde strukturalistische Tradition, die sich – anders als manche poststrukturalistische Theoriebildung – etwas auf die Klarheit und Präzision ihrer Begriffe zugute hält – ebenso wie es auch eine sog. kognitive Hermeneutik gibt, die den Anspruch erhebt, daß sich bestimmte Textstrukturen objektiv beschreiben lassen.
Insofern ist auch das vorliegende Buch des Stuttgarter Literaturwissenschaftlers Uwe Durst ein wichtiger Beitrag zu einer wissenschaftlich anspruchsvollen Theoriebildung, die sich gerade nicht auf die Produktion rhetorischer Effekte kapriziert, sondern an klarer Erkenntnis der Sache – hier: der literarischen Phantastik – interessiert ist. […]
Die Fülle anregender und gedanklich präziser Ausführungen in Dursts Buch macht es unmöglich, auf sie hier näher einzugehen. An Stelle einer solchen Auseinandersetzung, die leicht Aufsatzlänge erreichen würde, soll daher hier nur ein recht selektiver Hinweis auf einige von Durst angesprochene Themen stehen. Durst betont sehr deutlich die Eigengesetzlichkeit der Literatur, um sich von Vorstellungen abzugrenzen, die literarische Texte je nach Kompatibilität mit einer natürlichen Wirklichkeit abgleichen wollen. Für Durst ist aber das Erzählen selbst schon in gewisser Hinsicht „wunderbar“, auch wenn dies in sog. realistischen Erzähltexten verdeckt wird. Tatsächlich eigne aber allen literarischen Texten diese Qualität des Wunderbaren, weil die Struktur des Textes selbst eine Art Pan-Determinismus motiviert – alles ist in einem solchen Text bedeutsam. Aufgrund dieser Überlegungen ist es auch Durst zufolge sinnvoll, den Begriff der Wirklichkeit bei der Beschäftigung mit literarischen Texte durch den des Realitätssystems zu ersetzen, weil das Verhältnis selbst realistischer Literatur zu den Naturgesetzen zu diffus sei, um definieren zu können, was als wunderbar gelten kann (S. 393). […] Durst plädiert aufs Ganze gesehen entschieden für eine minimalistische Definition der Phantastik, gegenüber der vor allem im Alltagsgebrauch, aber eben auch in manchen wissenschaftlichen Studien zu findenden maximalistischen Definition. Zwar sei eine allgemeine Durchsetzung seines Theorie- und Definitionsansatzes nicht zu erwarten, doch im Bereich der Wissenschaft zumindest sollte begriffliche Präzision herrschen, damit es zu Erkenntnisfortschritten kommen kann. Dem ist m.E. zuzustimmen, auch wenn heutzutage zumal in den Kulturwissenschaften oft ein entgrenztes Begriffsregime herrscht, in dessen Rahmen es manchen Wissenschaftlern völlig reicht, wenn ein Konzept sich irgendwie auf ihren Erkenntnisgegenstand beziehen läßt.
Fazit: das Theoriewerk Dursts ist ein grundlegendes, hervorragendes Werk, dessen Kenntnis bei jedem vorausgesetzt werden muß, der sich überhaupt literaturwissenschaftlich mit Phantastik und Genreforschung beschäftigt. Besonders erfreulich ist es, daß Durst sich gegen die Dominanz anderer Ansätze bewußt für das Starkmachen eines strukturalistischen Theoriemodells entschieden hat. Er zeigt damit, daß der Nutzen dieses Ansatzes keineswegs durch poststrukturalistische Theoriemodelle aufgehoben wird. Jede gut sortierte literaturwissenschaftliche Bibliothek sollte ein Exemplar der Theorie der phantastischen Literatur besitzen.
Zur Gesamtrezension.


Monika Schmitz-Emans in Arbitrium, 3/2001, S. 283-285.

Die Stuttgarter Dissertation Dursts bemüht sich um eine generelle theoretische Grundlegung der "phantastischen Literatur". Sie knüpft dabei an Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur (im Original zuerst 1970) an, die einleitend als die noch immer maßgebliche Abhandlung zu diesem Thema charakterisiert wird (S. 13), so daß die im weiteren vorgenommene "Kritik und Korrektur" des Todorovschen Ansatzes doch gleichzeitig belegt, wie anregend dieser auch nach drei Jahrzehnten noch ist. […]
Durst reagiert hier konstruktiv auf das zentrale Problem an Todorovs Theorie, nämlich die Bindung der Konzeption des Phantastischen an außerliterarische "Realitäts"-Parameter. Bei Durst vollzieht sich die für das Phantastische als maßgeblich bestimmte Abweichung auf eine fiktionsinterne Norm. Sein Modell "bezeichnet das Spektrum narrativer Realitätssysteme und formuliert eine Deviationspoetik der erzählten Welt. Das Phantastische liegt auf der Spektrumsmitte (Nichtsystem N)" (S. 89). Damit wird vor allem der unablässigen Veränderung dessen Rechnung getragen, was als "Realität" und als "realistisch" interpretiert zu werden pflegt. Zum einen werden literaturexterne Realitätskriterien und innerliterarisch-fiktive "Welten" sinnvollerweise entkoppelt, zum anderen berücksichtigt Durst doch die Beziehung zwischen innerliterarisch "Realistischem" und externen Realitätskriterien. Daß jeder Kunst ein antirealistisches, 'poetisierendes' Moment inhärent, ist Durst ebenso bewußt wie die Problematik aller poetologischen Realismus-Konzepte. Auf die Schwierigkeit, "Realistisches positiv zu bestimmen, reagiert er argumentativ mit einer kopernikanischen Wende: "realistisch" soll innerhalb der Literatur ein Text heißen, "der die immanente Wunderbarkeit seiner Verfahren verbirgt" (S. 97).


Uwe Japp in Germanistik, 44/2003, Heft 1/2, S. 153f.

Ein Vorzug der Studie ist zweifellos die Zurückweisung textexterner Realitätskonzepte, an deren Stelle die Explikation des Wunderbaren als Verfahren tritt. Von hierher gewinnt auch die weitausgreifende These, das eigentliche Thema der phantastischen Literatur sie "die Literatur selbst" (330), an Plausibilität.


Bild der Wissenschaft, 2/2003, S. 54.

Exzellente literaturwissenschaftliche Abhandlung der Erzählstrukturen von Science Fiction, Phantastik und verwandten Genres.


Franz Rottensteiner in Quarber Merkur, 95/96 (2002), S. 286-288.

Seine Erörterungen sind stringent, präzise und überzeugend, auch seine Fortentwicklung, dass es verschiedene Ebenen des Wunderbaren und Realen gebe, und damit auch das Phantastische in einer wunderbaren Welt. Seine Studie ist hiermit geeignet, zu einem Standardwerk auf dem Gebiet der Theorie des Phantastischen zu werden.


Dieter Petzold in Inklings Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, 19/2001, S. 250-256.

Wer verstehen will, wo die Probleme liegen, und wie einige davon zu lösen wären, dem sei die Lektüre von Uwe Dursts Buch Theorie der phantastischen Literaturempfohlen – oder doch wenigstens der folgenden Besprechung, denn die auf 336 Textseiten äußerst dicht argumentierende Dissertation ist trotz hoher Klarheit in Sprache und Gedanken nicht gerade eine leichte Bettlektüre. […] Dursts Theorie baut auf Todorovs Ansatz auf und ist wie dieser strukturalistisch: als Gewährsleute werden immer wieder die Prager und die französischen Strukturalisten (vor allem Roman Jakobson und Roland Barthes) und die russischen Formalisten (Lotman, Sklovskij, Tynjanov) aufgerufen. […] Durst hält an [Todorovs …] Zentralgedanken fest, präzisiert und modifiziert ihn aber erheblich.
Als erstes räumt er mit der Vorstellung auf, daß es die Abweichung von der 'Wirklichkeit' sei, was die Literatur des Phantastischen und des Wunderbaren auszeichne. Zum einen gab und gibt es zu keiner Zeit einen Konsens darüber, wie die Wirklichkeit denn eigentlich beschaffen sei. […] Zum anderen muß prinzipiell strikt unterschieden werden zwischen der (fiktionsexternen) Wirklichkeit und der virtuellen Welt, die in einer literarischen Fiktion entworfen wird. […] Wichtig – und überraschend – ist nun Dursts weitere Feststellung: daß nämlich "die narrative Literatur generell – auch die angeblich 'rationale' – vor Wunderbarkeiten strotzt" (69), was uns nur nicht auffällt, weil es sich vorwiegend um fest etablierte Konventionen handelt.